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Blick auf den Mäuseturm

Das dem Rheingau entgegengesetzte Ufer des Stromes ist viel öder und erhöht durch seinen Abstich die Reize desselben.
Kaum erblickt man auf dieser stufenweis sich erhebenden Südseite vier bis fünf Orter, die weit voneinander entlegen sind. Der große Raum zwischen denselben besteht größtenteils aus Heideland und Wiesen.
Nur hie und da wirft ein alter Hain dicke Schattenmassen über dieselben hin, und nur sehr sparsam leuchten an einigen Orten Getreidefelder aus der finstern Landschaft hervor.

Der Hintergrund dieser Gegend ist im malerischen Betracht der beste Teil derselben. Ein enger Bergschlund, der sich zwischen Rüdesheim und Bingen perspektivisch zu verengen beginnt, bildet denselben. Senkrecht abgehauene Berge und Felsen hängen hier über den Rhein her, auf den sich hier eine ewige Nacht gelagert hat. In der Ferne glaubt man, der Rhein ströme durch eine unterirdische Höhle aus dieser Landschaft heraus, durch welche er so langsam zu gehen scheint, um ihre Reize in wollüstiger Trägheit desto länger genießen zu können. Der sogenannte Mäuseturm scheint im Dunkel, welches auf diesem Hintergrund liegt, auf dem Wasser zu schwimmen.

Blick auf den Mäuseturm © TGTempel

Kurz, in der ganzen Gegend ist nicht das geringste, das nicht zur Schönheit und Pracht derselben etwas beitrüge und sozusagen notwendig wäre, um das Paradies vollkommner zu machen. – Wenn man in der Mitte zwischen Mainz und Bingen auf dem Rhein fährt, so bilden die Ufer des Stromes ein vollkommnes Amphitheater im Oval, welches eine der malerischesten und reichsten Landschaften ausmacht, die man in Europa sehen kann.

Die Nacht war schon angebrochen, als wir zu Geisenheim ankamen. Ehe wir landeten, genossen wir noch eines sehr seltenen Anblicks. Wir konnten fast die ganze Küste des Rheingaues übersehen, die wie von einer zusammenhängenden Stadt bedeckt war. Die vielen Lichter in den unzähligen Dorfschaften täuschten mich so sehr, daß ich wirklich eine ungeheure Stadt beleuchtet zu sehen glaubte. Der Widerschein dieser Lichter in dem spiegelglatten Rhein begünstigte die Täuschung.

aus: Briefe eines reisenden Franzosen über Deutschland (1783)
Johann Kaspar Riesbeck 1754-1786